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Warum die zweitgrösste Stadt der Niederlande um Touristen kämpfen muss, ist mir ein Rätsel. Hier weht ein frischer Wind. Nach dem Bombardement im Zweiten Weltkrieg hat sich die Stadt aufgerafft. Das harte Pflaster ist mittlerweile zu einem gigantischen Potpourri mutiert, dass sich zu entdecken lohnt.
«Es ist wie eine riesige abstrakte Skulptur», sagt Architekt Jeffrey Bolhuis (34) über Rem Koolhaas 150 Meter hohen Gebäudekomplex. Der Wind fegt mich fast von der Brücke, als ich «de Rotterdam» genauer betrachten will. Ich finde die Hochhäuser, die nicht so richtig aufeinander passen möchten, gigantisch. «Sieht aus wie der Computerklassiker Tetris», sage ich und schnelle Richtung Brückenende.
New York hat den niederländischen Stararchitekten Rem Koolhaas schon immer fasziniert. In der zweitgrössten Stadt der Niederlande hat er nun mit «de Rotterdam» die Skyline ergänzt. Für Architekturexperten mag dies nichts Neues sein. Für mich sind solche überdimensionierte Hochhäuser faszinierend. Weil sie von Platz zeugen, den wir in den Schweizer Städten nicht haben. Wenn der Wind einem nicht gerade den Atem raubt, liegt hier der Duft der Freiheit in der Luft.
Das ehemalige Hafengebiet rund um Kop van Zuid ist in den letzten Jahren zu einem Mini-Manhattan mutiert. Auf dem Wilhelminapier mit Ausblick auf die Neue Maas und das Stadtzentrum steht das New York Hotel. «Rotterdams Wohnzimmer», sagt Bolhuis, «hier fühlen sich alle wohl, auch wenn man das von aussen nicht denken würde». Das elegante Jugendstil-Bauwerk ist neben Mecanoos modernistischem Hochhaus «Montevideo» ein charmantes kleines Überbleibsel aus einer anderen Epoche. Im Innern des Hotels zeugen Bilder, Requisiten und Bücher von der Zeit, als Immigranten Rotterdam per Schiff verliessen, um in Amerika ein neues Leben zu beginnen. Es ist der perfekte Ort um eine heisse Schoggi zu schlürfen und vom Land der unbegrenzten Freiheit zu träumen.
«Heaven» steht auf einer ehemaligen Containerhalle, wo jetzt ein Markt stattfindet, «Walhalla», so heisst das Theater nebenan. Was einmal schäbig und ungebraucht war, ist jetzt umfunktioniert und kommt im angesagten Industrial chic daher. «Jordy’s Bakery» steht gross in Neonbuchstaben, Leute stehen Schlange um frisches Brot zu kaufen. Wir sind nur unweit von Mini-Manhattan in Mini-Brooklyn gelandet. Die SS Rotterdam, die vierzig Jahre lang nach New York fuhr, steht gleich ums Eck. Auf dem Deck weht immer noch ein rauer Wind. Am liebsten würde ich jetzt sofort per Schiff verreisen, so wie in den Zeiten, als New York noch New Amsterdam hiess. «Los komm, es ist verdammt kalt!» ruft eine Stimme. Minuten später flitzen wir mit dem Wassertaxi zurück ins Stadtzentrum.
Die Sonne steht tief, blitzt von Zeit zu Zeit hervor und taucht die Skyline von Rotterdam in goldenes Licht. Golden ist auch ein Teil der Aussenansicht der berühmten Kunsthalle von Rem Koolhaas. Dieser war vor seiner Karriere als Architekt Drehbuchschreiber. «So detailbesessen wie er ist, würde ich Koolhaas den Stanley Kubrick der Architekten nennen», sagt Bolhuis mit leuchtenden Augen, als wir Richtung Kunsthalle gehen. «Jeder Abschnitt bis zum Eingang ist wie im Film in Szenen eingeteilt», sagt er enthusiastisch, und reibt sich vor Kälte die Hände. Tatsächlich ist es so, als würden wir von der einen Filmszene zur anderen gehen. Auf einen Park mit Bäumen in Reih und Glied folgt eine klare Grenzlinie. Ein riesiger Barcode erscheint auf dem Boden, der die EU-Fahnen aneinander reiht. Schnitt, und wir befinden uns in einem englischen Garten. Letztendlich schreiten wir über eine Brücke, die uns zur Kunsthalle führt. Auf der anderen Seite des unkonventionellen Gebäudes ist eine grosse Strasse. Ich blicke zurück und sehe, wie die goldene Aussenansicht des Gebäudes inmitten der trostlosen Umgebung glänzt. Hier eine bahnbrechende Kunsthalle, dort graue Wohnbauten aus den 80er-Jahren — Rotterdam ist ein gigantisches Potpourri.
«Es ist wie eine Architektur-Collage», sagt Bolhuis, als wir an der Blaak Station stehen. Da die St. Laurenskirche aus dem Mittelalter, davor eine moderne Einkaufsallee. Neben Piet Bloms Kubuswohnungen ragt «Het Potlood», zu Deutsch der Bleistift, aus dem Boden. Die Bibliothek im Stile des Pariser Center Pompidou mit auffälligen orange-farbenen Rohren gleicht eher einer Raffinerie. Neben dem herkömmlichen Markt steht die neue imposante Markthalle, die im Innern in eine künstliche Welt entführt, in der Blumen und Bienen die Decke zieren. Wo nach dem Bombardement im Zweiten Weltkrieg ausser der Kirche nichts mehr stand, haben sich in den letzten Jahrzehnten Architekten selber verwirklicht. Mit gigantischen Gebäuden übertrumpfen sie sich gegenseitig, auf der Suche nach einem neuen Wahrzeichen. Die Bronze-Skulptur «die zerstörte Stadt» des weissrussisch-französischen Künstlers Zadkine ist gerade mal 6,5 Meter hoch. So klein sie ist, ihre Ausdruckskraft überstrahlt die Wolkenkratzer bei weitem. Da stört es auch nicht, dass sie von anderen Gebäuden umringt und ein bisschen versteckt ist. Im Gegenteil, denn hier ist es endlich windstill.
Fotos: iStock, Sven Driesen