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Chile, das Land mit der längsten Küste der Welt. Chile, das Land der Vulkane. Chile, das Land der menschenleeren Nationalparks. Ach ja, Chile. Wo fange ich da am besten an? Vielleicht so: Chile sitzt im Bewerbungsgespräch um den Posten als weltweit bestes Abenteuerland. Es ist die alles entscheidende Runde. Der Personalchef stellt die letzte Frage: «Wo siehst du deine herausragende Stärke?» Schweigen. Grübeln. «Ich habe eine absolut einzigartige und wilde Natur!»
«Zugreifen!», würde man gerne rufen. So ein vielfältiges und spannendes Land wie Chile bekommt man so schnell nicht wieder. Und Reisende auf der Suche nach Abenteuer werden hier – am Ende der Welt – mit Sicherheit fündig. Egal ob am Berg, in der Wüste oder auf dem Meer. Weite. Einsamkeit. Extreme. Chile ist an vielen Orten nichts für Warmduscher. Man verzeihe mir den Ausdruck an dieser Stelle, doch es sollte gewarnt sein, dass hier die Natur das Sagen hat. Doch wer auf sie hört, der wird wilde Wunder erleben.
Wir stehen mitten in der Fünf-Millionen Metropole Santiago de Chile. Die Hitze des Tages schwindet, langsam geht die Sonne unter. In den kühlen Abendstunden kämpfen sich dutzende Bewohner den «Cerro San Cristóbal» hinauf – der Hügel ist mit seinen 800 Höhenmetern Hausberg, Outdoor-Fitness-Studio und Spielplatz zugleich. Man sieht Mountainbikes, Trailrunner, Rennräder, Fussgänger. Im Ausgehviertel Bellavista führen zwischen Nobelrestaurants und hippen Kneipen unzählige Pfade nach oben. Und wie der Name des Viertels verspricht, hat man von dort einen sagenhaften Blick auf die Berge rund um Santiago. Hinter uns leuchten die massiven Ausläufer der Anden rot im Abendlicht. Ein paar Gipfel tragen noch Schneekäppchen vom vergangenen Winter. Nur drei Stunden sind es von der Hauptstadt zum Aconcagua, dem höchsten Berg Südamerikas. Fast bis nach Feuerland zieht sich eine mit Vulkanen gesprenkelte Gebirgskette und bildet so die chilenische Grenze Richtung Osten.
Chilenen lieben ihre Berge, es sei denn es ist Hochsommer. Dann zieht es die Einheimischen – und uns – an die Küste. Und davon gibt es in diesem Land mehr als genug. Über 4000 Kilometer – das entspricht in etwa der Strecke von Kopenhagen bis an den Anfang der Sahara. Gedankenverloren lasse ich den Finger über Fjorde und Buchten auf der Landkarte fahren. Nach Norden: Atacamawüste, Arica, Valparaiso. Bis hinunter in den Süden. An die Fjorde Puerto Montts, hinüber nach Patagonien. Diese Namen lösen bei mir eine unerklärliche Sehnsucht aus, denn ich weiss, dass sie das Versprechen von sagenhafter Natur und Einsamkeit immer halten. Doch heute bleibt der Landkarten-Finger an einer mir bisher unbekannten Stelle stehen: die Region Maule rund um die Stadt Talca. Nur 400 Kilometer südlich von Santiago – für chilenische Verhältnisse ist das ein Katzensprung. Vamos!
7.30 Uhr. Verschlafene Gesichter. Der Ramal, einer der ältesten Züge Chiles, setzt sich in Bewegung. Jeden Tag fährt er von Talca bis an die Küste. Wir lassen die Berge hinter uns. Mit nicht mehr als 30 km/h zuckelt der motorisierte Farbklecks entlang des gleichnamigen Flusses – dem Maule. Dichte Nadelwälder säumen den Weg. Alaska? Kanada? Ein Herr im Zug klärt uns auf: «Die Bäume mit dem Namen «Pino Canadiense» wurden vor über 100 Jahren aus Kanada hierhergebracht und angepflanzt.» Die kanadische Kiefer hat sich seither enorm ausgebreitet. Es würde mich nicht überraschen, wenn nach der nächsten Flussbiegung Elche am Ufer stehen. Wir kommen langsam voran, sehr langsam. Zum Glück. So bleibt genügend Zeit, die Landschaft, den Fluss, die Menschen im Zug zu beobachten. Extremes Wetter formt die Gesichter – doch unter der rauen Schale liegt ein weicher Kern. Machen, nicht reden! So könnte das nationale Motto lauten. Ihre zurückhaltende, sehr pragmatische Art unterscheidet die Chilenen von den meisten anderen Lateinamerikanern.
Nach drei Stunden Fahrt erreicht der Zug sein Ziel. Maule trifft auf Meer. Die zwei Wasserströme kollidieren und entladen sich als Fontänen in die Luft. Einsame Strände und steile Klippen behaupten sich gegen die wilden Wasserwogen. Sogar hier, weit weg von den Bergen, hinterlassen Chiles Vulkane ihre Spuren: Starke Meeresströmungen tragen das zerkleinerte Lavagestein von Süden über hunderte von Kilometern. Schwarzer Sand ist das Resultat. Unser erste Eindruck: Das ist nicht die Karibik, aber die wollen wir ja auch gar nicht! Wer in Chile Liegestühle, Cocktails unter Palmen und lauwarme Schnorchel-Reviere sucht, den muss ich an dieser Stelle enttäuschen... Doch wer kein Problem damit hat, stunden-, ja oft tagelang mit der Wildnis und seinen Gedanken alleine zu sein, der kann hier sein Zelt aufschlagen.
Egal ob Nord, Ost, West, Berg oder Tal – ein fahrbarer Untersatz ist ein Muss. Die Strassen sind meist gut ausgebaut. Allem voran die Panamericana, die einmal durch das ganze Land läuft. Wir mieten uns für den Tag ein Auto und tuckern die waldige Küste nach Süden. Bunte Holzhäuser und Fischerdörfer wechseln sich mit dem Grün der Nadelwälder ab. Meist sind nur ein paar Fischer an den endlosen Stränden auszumachen. Fisch und Fischen – das ist hier Leidenschaft und nicht selten Lebensgrundlage. Der Chilenische Nobelpreisträger Pablo Neruda thematisiert die Beziehung seiner Landsleute zum Meer in dem Gedicht «Ode an das Meer» – darin bittet er den rauen Ozean darum, jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind jeden Tag einen Fisch zu geben. Egal ob gross oder klein. Auch bei uns steht morgens, mittags, abends Fisch auf dem Speiseplan: Meeresfrüchteeintopf, gegrillter Fisch, chilenischer Lachs. Frisch auf den Tisch.
Es ist eine Fahrt voll unerwarteter Superlative: Auf 120 Kilometern Küstenstrasse treffen wir auf die grösste Pelikan-Kolonie (bei Constitución), einen der besten Surfsports des Landes (bei Pelluhue), die weiteste Dünenlandschaft (bei Putú) und chilenischen Urwald im Reserva los Ruiles (bei Chanco) – doch auf keinen einzigen Touristen. Müssten wir nach dem langen Wochenende nicht wieder zurück nach Santiago, würde das Auto nun einfach immer weiter nach Süden rollen, um noch mehr Wunder zu entdecken. Doch selbst mit Monaten im Zeit-Gepäck ist es fast unmöglich alles zu sehen. Denn auf das ganze Land verteilt gibt es 36 Nationalparks, 49 Reservate, 16 Natur Monumente – das ergibt eine Gesamtfläche von 14,6 Millionen Hektar. Faktisch gesagt: 20 Prozent des Landes. Melancholisch gesagt: In Chile liegt die Freiheit auf der Strasse, die Wildnis vor der Nase und das Abenteuer gleich daneben. Lieber Herr Personalchef, es gibt nichts zu zögern!
Tausende Kilometer Küste. Das hat nicht nur Einfluss auf Klima und Körper – sondern vor allem auf die Küche Chiles. Zahlreiche der landestypischen Gerichte beinhalten Fisch. Ob paniert, in Eintöpfen oder auf dem Grill – das variiert von Region zu Region. Doch eines bleibt gleich: Der Fisch ist frisch. Da überrascht es auch nicht, dass in Chile seit einigen Jahren ein neues Fischgericht «à la moda» ist. Ceviche: roher Fisch in Limettensaft. Durch die Säure des Limettensafts entsteht im Fisch-Eiweiss ein ähnlicher Vorgang wie beim Garen. Klingt ungewöhnlich, doch überzeugt fast alle skeptischen Gaumen. Und wer hat‘s erfunden? Nein, nicht die Japaner. Sondern die Peruaner, die, ähnlich wie die Chilenen, eine lange Fischereitradition vorweisen können. So spriesen vor allem in Santiago immer mehr Ceviche Restaurants aus dem Boden. Oft findet man auf chilenischen Speisekarten die «Mixto-Variante». Das ist eine Mischung aus Lachs, Shrimps und weissem Fisch. Den frischesten Fisch und das frischeste Ceviche gibt es am Fischmarkt von Santiago. Zur Mittagszeit scheint die ganze Stadt in die historischen Jugendstil-Markthallen zu strömen. Feine Fischrestaurants oder rustikale Imbisstuben bieten den Fang des Tages lecker zubereitet an. Doch auch im Ausgehviertel Bellavista, am Fusse des Stadtberges Cerro San Cristóbal, schwingen immer mehr Köche den Ceviche-Löffel. Und das Beste: Das Gericht ist nicht nur lecker, sondern auch extrem gesund.