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Es gibt sonnige Tage und es gibt Tage wie diesen. Eine mächtige Regenfront ist über Nacht von Westen über das Meer hereingezogen und hat sich über Vancouver häuslich niedergelassen. Doch der Fussweg entlang des False Creek — des Meeresarms, der Vancouver Downtown von den südlicheren Stadteilen trennt — ist alles andere als verlassen.
Leicht bekleidete Jogger teilen sich den Asphalt mit Fahrradfahrern im Renntrikot. Dazwischen manövrieren junge Mütter einhändig ihre geländegängigen Kinderwagen, während sie in der anderen Hand einen Becher «organic coffee to go» balancieren. Die vom Himmel fallenden Wassermassen werden von den Sportlern eisern ignoriert und von den Fussgängern durch funktionelle, moderne Wetterschutzbekleidung ihres Schreckens beraubt. Munter ziehen sie alle ihres Weges und haben für entgegenkommende Touristen meist noch ein freundliches «Hi, how are you?» übrig. Auch die Einträge in den gängigen Online-Reiseforen sprechen die gleiche Sprache. «What if it rains? Bring an umbrella and a raincoat.»
In der Stadt gibt es einiges zu entdecken, ganz wetterunabhängig. Das überschaubare Stadtzentrum bietet alle Annehmlichkeiten einer westlichen Grossstadt und mutet wegen des hohen Anteils asiatischer Gesichter sehr international an. Neben den zahlreichen Museen und Konzertlokalitäten zieht vor allem das Vancouver Aquarium und der umliegende Stanley Park westlich des Hafens die Besucher an. Der Stadtteil Gastown besticht durch sein reiches Angebot an Bars und Restaurants und die stilistische Vielfalt der Shops. Selbstversorger werden im Granville Market fündig, wo sich Stände mit frischen Esswaren aneinanderreihen. Was Vancouver aber von den meisten anderen Metropolen dieser Welt unterscheidet, ist die Nähe zur Natur. Unmittelbar nördlich der Stadt finden Erholungsbedürftige beim Grouse Mountain und im Cypress Provincial Park zwei Naherholungsgebiete, die an klaren Tagen zusammen mit der Skyline von Vancouver Downtown für Postkartenmotive sorgen. Doch die angrenzenden Berge sollten keinesfalls unterschätzt werden — regelmässig wird nach vermissten Wanderern gesucht. Die Wildnis vor Vancouver: ein Abenteuerspielplatz für Outdoor-Sportler jeglicher Couleur. Ob Kanufahrer, Mountainbiker oder Bergsteiger, hier kommt jeder auf seine Kosten.
Während in Vancouver noch viele Kleinwagen unterwegs sind, nimmt die Anzahl grosser Geländewagen auf der Strasse rapide zu, je mehr man sich vom Stadtzentrum entfernt. Nur 30 Kilometer nördlich von Vancouver — und somit komplett im Hoheitsgebiet der Offroader — liegt der ehemalige Minenort Squamish. Heute ist das Städtchen am Howe Sound vor allem ein Hotspot für Wanderer und Kletterer. Mit rund 1500 Routen unterschiedlicher Schwierigkeit in exzellentem Granit steht Squamish bei Kletterern auf der ganzen Welt hoch oben auf der Liste der Wunschdestinationen. Von kurzen Boulderproblemen bis hin zum 500 Meter hohen Bollwerk des Stawamus Chief bietet die Gegend etwas für jeden Geschmack. Mitteleuropäische Sportkletterer seien jedoch an dieser Stelle gewarnt: Bohrhaken zur Zwischensicherung finden sich in den wenigsten Routen in Squamish. Der Grossteil der Routen wird traditionell abgesichert, mit mobilen Sicherungen, die vom Kletternden selbst gelegt und wieder aus der Wand entfernt werden.
Wer es etwas ruhiger angehen möchte, dem sei die etwa dreistündige Wanderung zum Gipfel des Chief und wieder zurück ans Herz gelegt. Genauer gesagt kommt eigentlich kaum ein Tourist um diese Tour herum, da bereits die Respektperson an der Airport-Passkontrolle in Vancouver mit eindringlichem Blick empfiehlt: «Go hike the Chief!» Länger, dafür deutlich weniger begangen ist die etwa achtstündige Tour auf den Black Tusk, nördlich von Squamish. Seinen Namen verdankt der Berg einem beeindruckenden Felsturm aus schwarzem Vulkangestein, der auf seinem Gipfel thront und nur von schwindelfreien und trittsicheren Wanderern erklommen wird. Als Belohnung lockt ein schwer zu schlagender Rundumblick auf Gletscher, Wälder und Seen, soweit das Auge reicht. Kanada wie aus dem Reiseprospekt.
Wer in Squamish noch keinen Bären gesehen hat, trifft spätestens 30 Kilometer weiter in Whistler auf einen. Laut eigenen Angaben leben in der Region um den 9800-Seelen-Ort 100 Schwarzbären. Das macht einen Bären auf gut 100 Einwohner. Als Skidestination ist Whistler spätestens seit den Olympischen Winterspielen 2010 international bekannt. Im Sommer hingegen lockt vor allem der weltberühmte Mountainbike-Park von Whistler-Blackcomb. Der 1500-Meter-Aufstieg erfolgt bequem per Sessellift oder Gondel. Die Bequemlichkeit der Abfahrt bestimmt indes jeder Fahrer selbst. Über 74 verschiedene Trails in unterschiedlichen Schwierigkeiten winden sich ins Tal und begeistern Mountainbiker, Freerider und Downhiller mit Sprüngen, Steilkurven, Holzgerüsten und etlichen natürlichen Hindernissen. Zu letzteren darf durchaus auch die lokale Bärenpopulation gezählt werden, da diese von Zeit zu Zeit Geschmack an den grünen Grasbüscheln in der Nähe der Talstation findet. Wer jedoch bei unerwartetem Bärenkontakt die allerorts angeschriebenen Verhaltensregeln befolgt, dem droht keine Gefahr von den gutmütigen Tieren.
Begegnungen mit Bären sind hier sogar so alltäglich, dass die Locals ähnlich viel Nervosität an den Tag legen wie Schweizer Wanderer, die einen Stier sehen: «Oh, da ist wieder einer. Das ist aber ein Schöner.» Wahrscheinlicher ist die eine oder andere Schramme von unsanftem Bodenkontakt. Somit empfiehlt sich das Tragen eines Integralhelmes sowie von Knie- und Ellbogenschonern. Fahrräder sowie Schoner lassen sich direkt an der Talstation in Whistler mieten. Derart gerüstet steht dem tagelangen Bike-Vergnügen nichts im Wege. Die Anforderungen der Trails an die Fahrer sind durch Farben gekennzeichnet und dem System auf Schweizer Skipisten ähnlich. Das Angebot erstreckt sich von grün für Anfänger über blau, schwarz und doppelschwarz bis hin zu rot für Profis. Zusätzlich wird der Charakter der Routen mit Angaben zu «Flow» (flüssiger Routenverlauf, hohes Tempo) und «Technical» (enge Kurven, erfordert Ballance und Erfahrung) weiter differenziert. Somit kann jeder Fahrer seinen Trail je nach Vorlieben auswählen und die Schwierigkeit individuell steigern.
Etwa 40 Kilometer westlich von Vancouver liegt Vancouver Island. Die grösste Pazifikinsel Nordamerikas ist wegen der atemberaubenden Natur und den zahlreichen Wildtieren einen Besuch wert. Nur schon die rund zweistündige Überfahrt mit der Fähre ist ein Erlebnis, da sich nicht selten Delfine und sogar Orcas zeigen. Spezielle whale watching-Touren werden in jeder grösseren Ortschaft angeboten und mit Garantien beworben. Wer keinen Wal sieht, fährt nochmals gratis mit. Eine Besonderheit der Insel findet sich ganz im Norden im kleinen Hippie-Küstenort Tofino. Hier liegt der wohl beste Surfspot Kanadas — von dem jedoch nicht einmal alle Kanadier wissen. Kilometerweite Sandstrände ziehen sich der Küste entlang und entwickeln vor allem in der wellenreichen Wintersaison eine magische Anziehungskraft auf Surfhungrige aus der ganzen Welt. Es lohnt sich, für einen Tag die Alltagskleidung gegen einen Neoprenanzug einzutauschen und den Kanada-Urlaub um diese exklusive Erfahrung zu bereichern: Surfen im kalten Pazifik.
Wieder in Vancouver. Noch regnet es, doch vereinzelt blitzen die Berge hinter der Skyline der Innenstadt hervor. «I’m good. How are you?», fragt man zurück, doch die gutgelaunte Mutter hat Kinderwagen und «organic coffee» bereits weitermanövriert, ohne auf Antwort zu warten. So zieht man die Kapuze der Regenjacke ins Gesicht, weicht einem Jogger aus und marschiert weiter durch Vancouver, der Hauptstadt des Outdoor-Sports.
Fotos: iStock, Harald Schreiber