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Buenos Aires ist wie eine Welle: Wer versucht, dieser Stadt rational und logisch entgegen zu treten, den wird die Wucht an Eindrücken zu Boden reissen. Wer sich jedoch darauf einstellt und treiben lässt, der wird in einem Fluss aus kreativem Chaos durch eine der spannendsten Städte Lateinamerikas gespült. Unkontrollierbar und wild. Hier tobt das Leben – 24 Stunden am Tag.
Achtspurige Strassen, 13 Millionen Einwohner und nichtendende Verkehrsstaus – eine typische lateinamerikanische Grossstadt. Und doch ist Buenos Aires anders als die anderen. Ich muss zugeben, eigentlich bin ich ein Landei. In meinem Heimatort wohnen 2000 Menschen; um 20 Uhr kehrt Ruhe ein. Ich liebe das Land, doch es gibt in meinem Leben ein Geheimnis: Seit Jahren pflege ich eine Affäre mit einer Stadt. Ja, es zieht mich immer wieder zu ihr. Buenos Aires, was hast du, was andere nicht haben? Du verschluckst deine Besucher während der Tango-Milonga, spuckst sie im nächsten Moment in ein tobendes Fussballstadion, lockst in international gefeierte Streetart-Galerien, bevor du sie mit einem edlen Glas Rotwein in die versteckte Designer-Bar entlässt. Ohne viel Geld, dafür mit umso mehr Charme verzauberst du mich und all‘ deine Besucher.
Der Tag beginnt mit einem Ausflug nach San Telmo, dem südlich gelegenen und ältesten Quartier der Stadt. Zwischen flachen Kolonialbauten und Tango-Kneipen schlägt das traditionelle Herz der Stadt. Einwanderer aus aller Welt kamen hier in Hafennähe an, um am Rio de la Plata ein neues Leben zu beginnen. San Telmo entwickelte sich zum Auffangbecken für Ankömmlinge aus allen Himmelsrichtungen. Spanische Aristokratie traf auf neapolitanische Arbeiter, portugiesische Händler auf afrikanische Sklaven – die gesamte koloniale Welt auf diesem kleinen Flecken vereint. Ein Teil dieser explosiven Mischung hat sich bis heute erhalten. Man muss nur einer hitzigen Diskussion zwischen Strassenhändlern oder Autofahrern lauschen und fühlt sich prompt nach Neapel versetzt. Porteños – «die am Hafen wohnenden» – so nennen sich die Bewohner Buenos Aires bis heute.
In den Spuren der Vergangenheit wandelt man am besten am Wochenende, wenn Antiquitätenhändler rund den Plaza Dorrego ihre Ware anbieten. Italienische Möbel, deutsches Porzellan, argentinische Fussballzeitschriften – wer sich durch die Stände wühlt erlebt einen spannenden Streifzug durch die Landesgeschichte. Zwischen den Händlern tanzen grau melierte Paare Tango, den Tanz des armen Buenos Aires. Ab mittags zieht Rauch aus den zahlreichen Parrilla Grillhäusern durch die Gassen und lässt das Wasser im Mund zusammenlaufen. Für die Miete und Instandhaltung der Marktstände in der ganzen Stadt sorgt die Stadtverwaltung selbst. So möchte man jungen, mittellosen Künstlern die Möglichkeit verschaffen ihre Arbeiten auszustellen und zu verkaufen. Wer an welchem Stand auftaucht? «Ach, wir haben da keine festen Regeln», lacht Carolina, eine 30-jährige Fotografin, die ihre Bilder hier ab und zu zum Verkauf anbietet. «Wer als erstes da ist, ist da!»
Buenos Aires, das ist mehr als Tradition – in dieser Stadt reichen sich Alt und Jung, Brauch und Moderne die Hand. Seit einigen Jahren entstehen zwischen den Antiquitätenläden immer mehr Ateliers. Günstige Mieten ziehen Künstler aus aller Welt an. Doch um ausgefallene Kunst zu sehen muss ich hier nicht unbedingt ein Gebäude betreten: Zu fast jeder Tages- und Nachtzeit bearbeiten Streetart-Künstler «leerstehende» Wände. Arm an Kapital, jedoch reich an Potential. So sieht es auch der Stadtführer Rick, der Besucher auf einem seiner «Art & History Walks» durch koloniale Hinterhöfe, vorbei an versteckten Galerien und Wandkunstwerken führt. «San Telmo sieht fast jeden Tag anders aus. Die Streetart-Szene aus ganz Südamerika trifft sich hier!» Graue Fassaden verwandeln sich in bunte Leinwände. Kreativität braucht kein Geld.
Dass das Leben in der argentinischen Hauptstadt keinen Feierabend kennt, merkt man spätestens wenn es um die Planung des Abendmahles geht. Am Wochenende kann es gut und gerne einmal 23 Uhr werden. Oder später. Zum Glück gibt es kulinarisch und zeitlich keine Grenzen und wer Hunger hat, wird immer einen Ort finden. Zum Beispiel eines der zahlreichen «Puertas Cerradas» (übersetzt: geschlossene Türen), halb-geheimen Guerilla Restaurants an versteckten Orten. In einem von Finanzkrisen gebeuteltem Land, in dem das Geld immer knapp ist und Behörden gerne mal ein Auge zudrücken, sind die halb-legalen Lokalitäten für viele Gastronomen eine investitionsarme Möglichkeit, ein Restaurant zu eröffnen. Oft haben die Köche jahrelang im Ausland gearbeitet – nun verbinden sie in ihrer Heimat lateinamerikanische Küche mit Trends aus den USA und Europa. In privaten Wohnzimmern oder auf szenischen Dachterrassen werden so Menüs in allen Preis- und Qualitätsklassen serviert. Die Orte lassen sich einfach online oder per App ausfindig machen. Mit der Reservierung erhält der Gast Adresse und Einlass-Signal. Nur der korrekte Klopf-Rhythmus oder eine versteckte Klingel öffnet Wissenden die Pforten zur mysteriösen Sterneküche ohne Pomp.
Unsere Mägen sind voll und der Blick auf die Uhr zeigt zwei Uhr morgens. Bettruhe? Nein, die Nacht hat gerade erst begonnen. Wir ziehen weiter in den Norden der Stadt. Nachts spült die Welle das Feier-Volk in den Stadtteil Palermo. Vor über zehn Jahren entdeckten Designer, Gastronomen und Barista das etwas heruntergekommene Quartier für sich. Umbau und Ausbau folgten. Dass das Viertel ursprünglich die «städtische Autowerkstatt» war, erkennt man bei genauerem Hinsehen noch an der Raumhöhe vieler Bars, Restaurants und Designerläden. Hebebühnen und Ölspuren in hohen Werkstatthallen sind nun feinen Cocktailbars, Musikclubs und Tanzlokalen gewichen. Nach langweiliger Standard-Inneneinrichtung von der Stange sucht man hier vergebens. Architekten und Designer können hier ihren Gedanken und Ideen freien Lauf lassen. Wo Geld fehlt wird eine andere, nicht selten spannendere Lösung gefunden. Der Industrie-Designer Guillermo Vicente ist davon überzeugt, dass das Durcheinander und die wirtschaftliche Unbeständigkeit viel zur Kreativität im Alltag beitragen. «In Buenos Aires gibt es nicht den einen, vorgegeben Weg. Du weisst nie was morgen passiert – deshalb muss man sich kreativ, flexibel und spontan neue Wege erschliessen.» Die Welle des Lebens ändert in dieser Stadt fast jeden Tag seine Strömung. Wo sie den Besucher morgen hin spült, das kann keiner so genau sagen. Aber langweilig wird eine Affäre mit dieser Stadt so schnell sicher nicht werden.
Fotos: Barbara Meixner / DER Touristik Suisse AG